In loser Folge treten Napoleon, literarische Figuren (Woyzeck), ein singender Robespierre (Pri Yan Rama Divrik erweist sich als erstaunliches, expressives Operntalent) oder Sigmund Freud, ein Papst und Jeanne d´Arc auf - nebeneinander, hintereinander. Die Darsteller verkörpern zumeist mehrere dieser Figuren - ein verwirrendes Spiel mit Zeitebenen und Identitäten, Fiktionen und historisch Verbürgtem. Immer präsent der Autor selbst oder besser: Ein Autor, nämlich Georg Büchner, der am Schreibtisch sitzend tadelnd sein Personal überwacht und streng ermahnt, nicht auf einem Eigenleben zu bestehen, sondern den starren Regieanweisungen gefälligst zu folgen (David Becker hat seine 12-jährige Schulzeit hervorragend genutzt, um das einschlägige Minenspiel des Lehrkörpers von „so nicht, mein Freund“ bis „na bitte, geht doch…“ zu studieren und schauspielerisch zu adaptieren).
Also: Kompliziert geht es zu und der Rezensent muss gestehen, dass er skeptisch ist, dass den Verwirrspielen vom Publikum jederzeit gefolgt werden kann, zumal die Figuren kulturell-historische Bezüge einbringen, deren halbwegs angemessenes Verständnis ein „Studium Generale“ voraussetzt. Weil der Literaturkurs das weiß, hat er das Stück allerdings literarhistorisch eingeordnet und zwar in einer „Road-map“ für die Zuschauerhand sowie sehr lesenswerten Begleitmaterialien auf der Homepage der Schule. Hier finden sich übrigens neben dutzenden brillianten Fotos von Stefan-Georg-Schnorr lesenswerte Anmerkungen zur Aktualität des Stücks im Zeichen des Ukraine-Kriegs anno 2022: „Was ist das, das in uns lügt, mordet, stiehlt…?“
Aber zurück zur Inszenierung: Das Ausschnitthafte birgt dramaturgische Chancen, nämlich Pointe, Witz, Zuspitzung. Und das Ensemble nutzt sie. Manchmal weiß man nicht so genau: Ist das nun banal oder tiefsinnig? „Ich brauche nicht an Gott zu glauben, ich bin Gott!“ oder: „Sprengstoff benötigt keinen Stil:“ Großartig aber in jedem Fall das humoristische Talent, mit dem Sara Mahdawi Nejad diesen Sentenzen Leben einhaucht. Talent schadet auf einer Theaterbühne generell nicht, aber es ist vor allem das Ringen um die rechte Artikulation, die treffende Mimik, den richtigen Ton; kurz: die vorbereitende Arbeit, die die Qualität der Vorstellung begründet. Jan Heyer etwa legt seinen Woyzeck derart hadernd und zittrig an, das die Deklassierung dieses armen Menschen mit Händen greifbar wird. („Kämen wir in den Himmel, müssten wir donnern helfen.“) Da hat sich jemand tief versenkt in Stück und Figur.
Die Stärke der Regie liegt in ihrer… Wertschätzung. Jede Figur bekommt ihren großen Moment, darf sprechen, agieren und glänzen. Und die jungen Schauspieler belohnen das Vertrauen, das Stefan-Georg Schnorr in sie setzt. Der omnipräsente Napoleon (Ulf Heyer) wird minütlich facettenreicher, aber auch zunächst weniger sichtbare Figuren legen plötzlich furiose Szenen hin. Verzweiflung, stille Einkehr, Wut, Trauer: Der Text alleine reicht da nicht, es braucht das berührende, oft geradezu fesselnde Spiel von Julia Hauptmann, Niklas Odendahl, Joel Moritz und Kenan Ahmetagic.
In einer kleinen Dankesrede sprach Sara Mahdawi später von Grenzen der Belastbarkeit, die der Kurs hätte überschreiten müssen, um eine derart qualitätsvolle Inszenierung entwickeln zu können und bedankte sich bei Stefan-Georg Schnorr dafür, ihn dabei geführt zu haben. Lang anhaltender Publikumsbeifall zeugte von einem fantastischen gemeinsamen Erfolg. Bitte demnächst: Mehr davon!
Axel Frieling
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Road Map zum Verständnis
Das Theaterstück spielt am 12. und 13. Dezember 1981 in Warschau. Am 13. Dezember wird in Polen das Kriegsrecht verhängt, um den befürchteten Einmarsch sowjetischer Truppen zu verhindern. Napoleon im Theaterstück entspricht dem polnischen General Jaruzelski. Ihm gegenüber steht der Anführer der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc Lech Walesa, auf der Bühne Jan Hus. Die UdSSR, Parteichef und Generalsekretär blitzen in den ‚beiden‘ Marx‘ auf, übertroffen nur noch durch drei Päpste (die es übrigens tatsächlich gab). Die USA ist durch den amerikanischen Außenminister Benjamin Franklin verkörpert. Woyzeck gibt den patriotischen Killer mit Auftrag des Staates, Jeanne d’Arc die patriotische Kriegslüsternde ohne Auftrag der Kirche. Macht und ihre Herausforderung make the world go round.
Wir alle spielen Rollen, das Leben als großes Theater. Als Rollenspieler wissen wir nur zu genau, dass es Rollen gibt, die wir gerne annehmen und solche, denen wir nach Möglichkeit ausweichen. Nicht anders in Achterloo. Jeder ‚Darsteller‘ verkörpert entsprechend die eine Rolle lieber, die andere weniger gerne. Ein kurzer Blick auf die Rollen des Stückes macht sofort klar, dass eigentlich alle ‚zweimal’ als historische Größen auf auf der Bühne stehen. Wollen und Müssen, Lieben und Hassen, eben Dialektik, wird in Achterloo in historischen Größen dramatisiert. Und die Frage nach der Identität ist noch gar nicht gestellt.
Es werden Mächtige gezeigt, die als böse erscheinen, aber nicht nur böse sind. Und es werden Ohnmächtige, Herausforderer, Aufrührer, Anführer, Revolutionäre und Revisionisten gezeigt, die als Lichtgestalten erscheinen, aber auch nicht nur das sind. Und es geht um Held und Verräter, um Heilige und Hure.
Zwei Personen stehen nicht im Rollenverzeichnis des Stückes, sondern tauchen erst sehr spät auf. Judith und Holofernes. Es ist ein bedingungsloses Ich oder Du, mein Volk oder dein Volk, mein Prinzip oder dein Prinzip, das Dürrenmatt durch beide verkörpert.
Die gesamte Handlung erweist sich mit dem Auftritt dieser beiden zurückschauend als ein Zivilisierungsgewimmel. Unendlich wichtig und belanglos gleichermaßen! Man verwechsle Gewimmel aber bitte nicht mit Willkür. Immer herrschen Strategie, Planmäßigkeit, Absicht. Dass sie sich gegenseitig im Wege zu stehen vermögen, bestätigt sie nur. Klar und unzweideutig ist es nur jenseits unserer Zivilisation, die im Kern lediglich als Verzierung erscheint.
Es verkörpert eine Pointe der besonderen Art, wenn Dürrenmatt als Sohn eines reformierten Pfarrers in seinem Stück, in dem ständig Rollen gestrichen werden, mit Judith und Holofernes auf ein Buch aus der Bibel zurückgreift, das der ‚Revisionist‘ Martin Luther bereits aus der Bibel gestrichen hatte.
Am Ende steht eine Bedingungslose einem Aggressor gegenüber. Verkörpert Judith womöglich jene, die im Begriff ist, zur Ikone unserer "Zeitenwende" zu werden? Noch nie hat die Realität ein Theaterstück des Literaturkurses so unzeitgemäß zeitgemäß eingeholt. Aber auf der Bühne ist alles nur Theaterdonner, kein Geschützdonner. Theaterblut, kein echtes.
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Rollen und ihre Darsteller
Professor/Napoleon
Ulf Heyer
Georg Büchner/Benjamin Franklin
David Becker
Louis/Marx II
Niklas Odendahl (Literaturkurs 2022/2023
Plon-Plon/Marx I
Joel Moritz
Cambronne/Papst Johannes XXIII.
Kenan Ahmetagic
Jeanne d'Arc
Julia Hauptmann
Frau von Zimsen/Richelieu
Sara Mahdawi Nejad
Woyzeck/Jan Hus
Jan Heyer
Robespierre/Fouché/Kaiser Sigismund
Pri Yan Rama Divrik (Literaturkurs 2022/2023)
Müller /Papst Gregor XII.
(Ersatzweise) Louis
Müller II/ Papst Benedikt XIII..
(Ersatzweise) Plon-Plon
‚Schneider vom Dienst“
Joel Moritz
Technik &. Musik
Joel Moritz/Pri Yan Rama Divrik
Maske
Julia Hauptmann/Sara Mahdawi Nejad
Souffleuse
Isalie Graven
Licht
Jan Heyer
i
Regie & Gesamtleitung
Stefan-Georg Schnorr
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