eyecatcher helikoptertante verandert mosaik 600

R. Wagner, Der Ring des Nibelungen, 2. Tag, Siegfried, 3. Akt (Deutsche Oper am Rhein, Düsseldorf)

Der hat vermutlich Wesentliches der Ikonographie unseres letzten Jahrhunderts verpasst, der im letzten Akt keine Assoziation mit dem "Tod im Reisfeld" (Peter Scholl-Latour) herstellt.

 

Etwas von der Surrealität dieser Zeit, uns in zahllosen Büchern, Bildern und Filmen vorgeführt, bemächtigt sich dem Zuschauer. Und dann dazu noch die Komik: Da will jemand aus einem abgestürzten Kampfhubschrauber den Piloten bergen und weicht plötzlich entsetzt mit den Worten zurück: "Das ist kein Mann!". Entzündete, hoffnungslos überforderte Pubertät überflutet die Bühne. Hier auf den Reliquien eines Schlachtfelds. Jenseits des Realen durch das Reale. Jenseits des Surrealen durch das Surreale.

Der Pubertierende heißt Siegfried. Es ist nicht so, dass er keine Stärken hätte. Aber von seinem Pflegevater hält er gar nichts. Seinen Opa hält er für einen müden Nostalgiker. Und ansonsten hält er sich nur an sein Schwert und sein Selbstbewusstsein. Siegfried ist ein Popanz, ein unausstehlicher Lümmel. Arrogant, besserwisserisch - und immer das letzte Wort oder die letzte Tat. Und man hatte vergessen ihn aufzuklären. Gut, für einen Naturburschen, wie Siegfried, hält die Natur einiges an Anschauungsunterricht bereit, wo er sich auch breitflächig bedient hat. Übrigens: Es soll ja Schneckenweibchen geben, die die Männchen ... . Aber es ist nicht bekannt, ob Siegfried Schneckenstudien betrieben hat.

Trotzdem: Siegfried fürchtet sich vor Frauen. Und, bitte jetzt nicht lachen: Mama soll ihm helfen! "Mutter! Mutter! Gedenke mein'!" Und wenig später dann die Erkenntnis - kurz und knapp: "Im Schlafen liegt eine Frau: Die hat mir das Fürchten gelehrt!" Kein Kommentar. Vielleicht doch Komik?

Die beiden Protagonisten auf der Bühne sind Brünnhilde und Siegfried. Beide stehen sozusagen jeweils vor dem ihnen eigenen Erweckungserlebnis. Was das für Siegfried bedeutet, ist einfach zu begreifen Irgendwie geht es für ihn auf der naturalistisch biologischen Entwicklungsleiter nun (endlich!) eine Stufe weiter.

Bei Brünnhilde ist die Situation komplizierter. Militärisch gesprochen, hatte Papa Wotan sie massiv degradiert. Wegen Ungehorsam und Befehlsverweigerung. Sozusagen nicht mehr Offiziersmesse, sondern zukünftig nur noch Mannschaftskantine! Ein klassischer Fall von Segregation - denn, nicht nur die Verköstigung betreffend, sondern auch die Partnerwahl betreffend, ist Mannschaftskantine angesagt. Brünnhilde hatte sich bei Papa noch ausbedingen können, dass, wenn schon Mannschaftsdienstgrad, um im Bild zu bleiben, der zukünftig Angetraute wenigstens kein Hasenfuß oder Weichei sein dürfe.

Und da steht er nun vor Brünnhilde: Natürlich kein Weichei wenn's um Männer geht. Er nimmt es mit jedem auf. Zweifelsfrei ein Hasenfuß, wenn es um Frauen geht. Aber: Die Sache wird sich rasant ändern. Und verwandtschaftlich betrachtet, steht er vor seiner Tante! Das hat alles zusammengenommen das Zeug zur echten Klamotte. Es kommt, wie es kommen muss. Das Testosteron von Siegfried bemächtigt sich seiner, mehr und mehr, kurz und knapp: "Was du (Brünnhilde) sein wirst, sei es mir heut!"

Brünnhilde ziert sich ein wenig. Sie ist ja Helikoptertante in einem gleichsam doppelten Sinne. Aus dem von Feuer umgebenen Walkürenfelsen bei Wagner ist bei Dietrich W. Hilsdorf in Düsseldorf ein abgestürzter Helikopter geworden. Aber gerade die Biografie von Brünnhilde liest sich mit Blick auf Siegfried wie das, was man mit dem modernen geflügelten Wort der 'helikopter parents' beschreibt. Hier haben wir es nur statt der Mutter mit einer überfürsorglich behütenden und überwachenden Tante zu tun. Die gleichsam wie eine Drohne allzeit über dem Erlebnishorizont ihres Neffen kreist. Schon zu Zeiten als Siegfrieds Mutter noch lebte und Siegfried gar nicht geboren war, hatte sich Brünnhilde in dieser Rolle gesehen. Mit emphatischer, distanzierter, und opferbereiter Fürsorge, so stand, steht und will Brünnhilde weiterhin Siegfried gegenüber stehen.

Aber sie kann es nicht durchhalten, darf es nicht durchhalten, will es nicht durchhalten, weil ihr sozusagen durch eine Mischung aus Schicksal, Evolution und Wotans Macht dies verwehrt bleibt. Und dennoch: Brünnhilde ist nicht nur Getriebene. Sie ist ganz wesentlich eigenständig, zwar emphatisch, aber selbst entscheidend und vor allem und nicht zuletzt: Trotzig und furchtlos. Irgendwo auf den letzten Metern des Siegfried ersetzt Brünnhilde dann sozusagen Fürsorge durch Liebe. Bei sich selbst. Für sich selbst. Mit mehr Konsequenzen für sich selbst als für Siegfried. Aus der Rolle der trotzigen gottähnlichen Tochter, wechselt Brünnhilde sozusagen in die Rolle der nur Menschin, eines liebenden Weibs gegenüber einem (nunmehr) liebestollen Lümmel. Die ureigenen Ideen ihres Vaters, von denen der sich verabschiedet hatte, nun verabschiedet auch sie sich von ihnen, muss sich von ihnen verabschieden.

Brünnhilde:

"Mir strahlt zur Stunde
Siegfrieds Stern;
er ist mir ewig,
er ist mir immer ...
leuchtende Liebe,
lachender Tod."

Blinde Liebeshysterie? Man lese die sechzehn Zeilen vor diesem Text: Eine einzige Aufzählung all dessen, wogegen Brünnhilde sich mit einem solchen Liebesbekenntnis bewusst entscheidet. Eben nicht blind, getäuscht oder unreflektiert. Sie singt diese 16 Zeilen! Für sich selbst. Funktionalistisch gesprochen wendet sie sich dem Helikopter ab und der Hetäre zu.

Dieser Wechsel, von einer sorgenden zu einer sehnenden Liebe, ist so etwas wie die Achillesferse dieses letzten Siegfried-Aktes, vielleicht sogar des ganzen "Siegfried". Diesen überzeugend zu verkörpern, verlangt darstellerische und schauspielerische Kompetenz erster Güte. Und es ist leider der seltenere Fall im Musiktheater, dass exeptionelle musikalisch-künstlerische und schauspielerische Leistungen Hand in Hand gehen. An dieser Stelle klaffte bei dieser Aufführung eine gähnende Leerstelle - gerade dort, wo man sie mit Blick auf die Besetzung nicht erwartet hätte. Die Metamorphose der Brünnhilde fand -darin der Premiere durchaus, trotz aller Änderungen, ähnlich- für den Zuschauer leider nicht wirklich statt.

Der erste und der zweite Akt verstehen sich als eine Art "Was-bisher-geschah". Im ersten Akt poltert und pöbelt der Popanz gegenüber seinem Ziehvater Mime. Den treiben zwar in der Tat finstere Absichten, aber immerhin muss er ihm Jahre lang die Windeln gewechselt haben. Vermutlich betrachtet er es als eine Art unumgängliche und langfristige Investition um die Lufthoheit über Siegfrieds Kinderstube und damit dessen Geisteshorizont zu erlangen, was aber vollständig fehlschlägt.

Wotan ist laut Textbuch im "Siegfried" offiziell nicht mehr dabei, tritt aber, für jeden, an der Musik erkennbar, unmissverständlich auf. Analog zum Textbuch ist er nun der Wanderer. Er zeigt sich äußerst mitteilungsbedürftig. Eine Frage- und Antwortschleife löst die andere und nächste ab. So harmlos auch seine Verkleidung als Wanderer die Rolle eines unbeteiligten Beobachters unterstreichen möchte, so ist er noch immer äußerst interessiert am Fortgang der Dinge. Die er einmal eingefädelt hatte. Wotan weiss: Alleine das Miteinander-Reden kann beeinflussend sein!

Er trifft alle Protagonisten: Mime, mit seinen Mordabsichten an Siegfried, Alberich, als sein Gewalt-Opfer, Erda als seine Exgeliebte und Mutter seiner Tochter Brünnhilde sowie Siegfried als seinen respektlosen Enkel. Der Showdown zwischen Opa und Enkel kumuliert in einem Zweikampf. Mit ungleichen Waffen. Der Enkel schwingt das Schwert seines Vaters Siegmund. Nun aber von ihm, Siegfried, selbst zerspant und neu gegossen. Im Zweikampf zwischen Hunding und seinem Vater Siegmund war es einst an Wotans Holzspeer zerbrochen.

Nichts markiert den Wandel in dem viertägigen Gesamtkunstwerk (Der Ring des Nibelungen) von Richard Wagner nun deutlicher als diese Neuauflage der Begegnung zwischen Schwert und Speer: Als Wotan seinem Enkel den Weg zu dessen Tante verwehren will, zerschlägt Siegfried den Speer seines Großvaters. Wotan kann Siegfried nicht von Brünnhilde fern halten. Wir haben lange im Kurs darüber diskutiert, ob er es denn wirklich wollte. Es bleibt das Paradox:  Dadurch, dass Wotans Einfluß uns hier als am geringsten vorgeführt wird, eröffnet sich erst die Möglichkeit, dass sich zwei Handlungsstränge potentiell zu kreuzen vermögen - die Wotan ja selbst eingefädelt hatte: Siegfried holt Brünnhilde 'zurück ins game'. Und Brünnhilde 'stört' die Kreise Siegfrieds.

Der zweite Akt, der Favorit bei den Schülern, lässt noch einmal Alberich und Wotan aufeinandertreffen. Angesichts der Tatsache, dass Wotan -in dieser Inszenierung- Alberich die Hand abgeschlagen hatte, um an dessen Ring zu gelangen, verläuft alles recht harmonisch. Irgendwo zwischen Lokomotive und Lokomobile angesiedelt, bricht -ikonographisch jetzt als "Maschinenzeitalter" gedeutet- das 19. Jahrhundert in die Szenerie. Interessant die Analogien der Interpretationen vom Drachen "Fafner" zwischen der Uraufführung 1876 in Bayreuth, der Bayreuther 'Jahrhundertinszenierung' von 1976 und dem Düsseldorfer "Siegfried" von 2018: Radbewegte Ungetüme! Schließlich: Fafner wird getötet und Mime wird das Opfer seiner eigenen Tücke. Er endet -sozusagen- am Fleischerhaken, wo er dem Aktende entgegen baumelt und -hängt.

6 Stunden Opernaufenthalt und die Gratwanderung zwischen Klamotte und großem Epos kommt zum Ende. So richtig gereut hat es keinen, dieses Kino des 19. Jahrhunderts.

 
 helikoptertante gruppe 600

 Teil des GK Musik 11 in der Deutschen Oper am Rhein, R. Wagner, Siegfried, 10. Mai 2018

 
eyecatcher trailer siegfried 600
 

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